Danke für die ehrenvolle Einladung, dass ich hier bei der "Emsiana" das Wort an Sie richten darf. Das Kulturfest "Emsiana" steht diesmal unter dem Thema "Wunderkammern", und der Wunsch an mich lautete, dass ich mit Ihnen die Rolle von Religionen ein wenig beleuchten und bedenken solle. Wunder und Wunderbares schreiben die Menschen seit Urzeiten Göttern und Gott zu. Zählen also die Religionen tatsächlich zu diesen Wunderkammern beziehungsweise wie können wir den Blick für das Wunderbare in unserem Leben schärfen? Ich lade Sie also ein zu einem virtuellen Museumsrundgang durch verschiedene „Wunderkammern“.
Religion hat zur historischen Bedeutung der Grafen von Hohenems vermutlich nicht unwesentlich beigetragen. Im 16. Jahrhundert verstanden sie es wohl, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Medici in Mailand auch machtpolitisch geschickt zu nützen. Papst Pius IV. war dadurch ein Onkel der Hohenemser Grafen, ebenso auch Karl Borromäus, Kardinal und Erzbischof von Mailand, der großes Ansehen genoss und 1610, nur 26 Jahre nach seinem Tod heiliggesprochen wurde. So erlangten einige der Hohenemser Grafen hohe kirchliche Ämter, was damals auch mit großer weltlicher Macht verbunden war. Markus Sittikus III. wirkte von 1560 bis 1589 als Bischof von Konstanz und wurde auch Kardinal. Wolf Dietrich von Raitenau, er gehörte der Lochauer Seitenlinie der Hohenemser Grafen an, machte Karriere als Fürsterzbischof von Salzburg von 1587 bis 1612. Er gilt als der Erbauer des „modernen“ barocken Salzburg. Sein Ende war dann wenig rühmlich, er wurde gefangengenommen und abgesetzt, und zwar von seinem eigenen Neffen Markus Sittikus IV., einem Grafen von Hohenems, der dann gleich auch sein Nachfolger als Salzburger Erzbischof wurde.
Dieses Kapitel der Grafen von Hohenems und der katholischen Kirche hat sicher auch einiges mit dem Wunder der Macht zu tun, weniger mit der Macht der Wunder. Andererseits wieder, auch die Geschichte der Juden in Hohenems hat in dieser Zeit ihren Anfang genommen. Der Schutzbrief des Reichsgrafen Kaspar von Hohenems legte 1617 die rechtliche Grundlage für die Ansiedelung jüdischer Familien und für den Aufbau einer jüdischen Gemeinde. Der Graf erhoffte sich davon vor allem wirtschaftliche Impulse. Und bis heute hat die überregionale Bedeutung von Hohenems sehr wohl auch mit seiner „jüdischen“ Geschichte zu tun.
Die Aufklärung [seit 1700] hat dann die frühere Selbstverständlichkeit, Gott als letzten Grund allen Seins zu sehen, schonungslos auf den Seziertisch des rationalen Verstandes geworfen. Für Karl Marx ist Religion „Opium für das Volk“. Religion betäube den Schmerz, schläfere ein, halte dadurch von überfälligen politischen Veränderungen ab. Dieser Vorwurf müsste heute wohl weit eher die Konsum- und Unterhaltungsindustrie treffen als die Religionen. Friedrich Nietzsche postuliert schließlich „Gott ist tot“. Und in der Tat sind für viele Menschen heute Religion und Gott schlicht kein Thema mehr. Und doch auch wieder: Wunder und Wunderbares können wir in unserer ganz alltäglichen Umgebung entdecken und viele Annäherungsmöglichkeiten an dieses Thema bieten sich uns an. Ich lade Sie ein, einen Blick auf das Hohenems von heute zu tun. Wenn wir das tun, dann sehe ich dabei Hohenems durchaus auch ein wenig als einen Spiegel oder eine Miniatur unserer Welt.
Von den 16.325 Einwohnern von Hohenems sind 9.048 Katholiken ( 55 % )
82 % der Einwohner sind Österreicher, 18 % stammen aus dem Ausland. Die wichtigsten Herkunftsländer sind: die Türkei, Deutschland, die Länder der übrigen EU, und des ehemaligen Jugoslawien.
Hohenems hat zwei Katholische Pfarren: Die Pfarrkirche St. Karl Borromäus, wurde 1797 fertiggestellt. Sie ist erbaut auf einem Teil der ehemaligen Jakob-Hannibal-Kirche und die Pfarrkirche St. Konrad. Es gibt zwei Islamische Gemeinden: ATIB und IKZ (Islamisches Kulturzentrum Hohenems). Der Islamische Friedhof in Altach liegt in unmittelbarer Nachbarschaft. Es gibt evangelische Christen und evangelische Gottesdienste (monatlich) in der (von der katholischen Kirche zur Verfügung gestellten) Rathauskapelle. Und Hohenems ist nicht zuletzt für die vielen Nachkommen von Hohenemser Juden immer noch ein Zentrum des Kontakts und der Vernetzung. Der Jüdische Friedhof mit seiner ganz besonderen Atmosphäre und das jüdische Museum halten die Erinnerung an die Zeit lebendig, als die jüdische Gemeinde ein selbstverständlicher Teil von Hohenems war. Es sind somit die drei abrahamitischen Religionen – Juden, Christen und Muslime – in Hohenems vertreten und bis heute gibt es eine Reihe von guten, rührigen Initiativen auf dem Gebiet der interreligiösen Begegnung, etwa die Gebetsraum- und die Friedhofswanderungen, bei denen man die anderen Religionen und ihre Bräuche kennenlernen kann.
Wir leben heute in einer pluralen Situation. Die katholische „Vorherrschaft“ gehört endgültig der Vergangenheit an. Für viele gilt Religion heute als „Privatsache“, wird toleriert oder ist irrelevant geworden. Der Beitrag der Kirche / Religion für die Gesellschaft wird dabei aber durchaus gesehen und geschätzt, so mein Eindruck. Die (katholische) Kirche ist zum Beispiel einer der größten Arbeitgeber im Land. Die Kirchen leisten Beachtliches im sozialen und zwischenmenschlichen Bereich – Caritas – im Bereich Bildung und Erwachsenenbildung … Das Bild der Religionen ist genauso auch vielfach emotional geprägt und behaftet mit Klischees und Vorurteilen. Aber auch Vorurteile geben – wie in einem Zerrspiegel vielleicht – wichtige, wenn auch nicht immer richtige Wahrnehmungen wider: Der Islam etwa wird derzeit oft identifiziert mit Gewalt – Stichwort IS-Terror –, auch wenn das für die Mehrheit der hier in Vorarlberg lebenden Muslime nicht zutrifft. Aber zumindest ein kleiner Restverdacht bleibt haften, der das Vertrauen untergräbt. Die katholische Kirche wiederum wird identifiziert mit Rückständigkeit, Ewig-Gestrigen, veraltet und verknöchert, Machtansprüchen, moralischer Unterdrückung, Missbrauch. Auch das Klischee der „reichen Kirche“ gehört dazu. Ich war letzte Woche im Sozialzentrum im Montafon und ging an vier alten Leuten vorbei, die davor saßen. Sie erkannten mich als Bischof und grüßten mich freundlich. Beim Weggehen hörte ich den einen sagen „Das ist schon verrückt, wie reich diese Kirche ist.“ Solche Klischees haben sich durch Papst Franziskus vielleicht ein wenig entschärft, trotzdem bleiben sie bestehen. Bemerkenswert dabei ist, dass die positiven Leistungen der Kirche, etwa als eine „Großmacht der Nächstenliebe“ – Mutter Teresa oder andere „Heilige von heute“ wie Bischof Erwin Kräutler und viele sozial-caritativ engagierte Menschen – nicht auf das positive Image-Konto verbucht werden. Denn Klischees haben die Eigenschaft, dass sie in der Regel negativ behaftet sind. Positive Klischees gehen unter.
Wie einseitig und falsch derartige Klischeedarstellungen sind, hat man bereits mehrfach in der Geschichte erleben dürfen (oft auch dann, wenn eine Gruppe z. B. ihrer Religion wegen verfolgt wurde). Das geschieht auch heute noch in vielen Ländern. Und auch bei uns in Europa ist eine entschieden gelebte Religiosität eher in Verruf.
Keine Frage, Religion kann fanatisieren und vor allem missbraucht werden: das sah man im Christentum, das sieht man auch im Islam. All das kennt die Geschichte und die Gegenwart der Religion. Religion ist ohne Zweifel manchmal wie ein gefährliches Gift für die Menschen – nämlich immer dann, wenn Menschen sich fanatisieren lassen und damit die Ideale der Religion in ihr Gegenteil verkehrt werden. Wenn nämlich die Gewissheit, eine fundamentale Wahrheit gefunden zu haben dazu führt, dass diese Wahrheit anderen mit Gewalt aufgezwungen wird.
Wie beantworten wir also zum Beispiel die Frage, warum junge Moslems in Österreich oder Deutschland sich plötzlich freiwillig in den Heiligen Krieg aufmachen? Lehrer:innen, Familien, Freunde von Jihad-Kämpfern berichteten in den Medien immer wieder davon, wie rasend schnell diese Fanatisierung verlief, wie sie die Jugendliche von einem Tag auf den anderen kaum mehr erkannten. Die Frage an uns lautet auch, was gibt dieser Fanatismus, das wir alle – als Gesellschaft – diesen Jugendlichen nicht geben können? (eine Theorie dazu lautet ja, dass die Integrationsbemühungen an diesen Jugendlichen tw. völlig vorbei gelaufen sind, dass sie in unserer Gesellschaft keine Perspektive für sich sehen, dass sie sich immer an den Rand gedrängt und vor allem ungewollt fühlen und dass sie in diesem Fanatismus endlich Anerkennung finden). Das bleibt eine kritische Anfrage an unsere scheinbar so aufgeklärte Gesellschaft: Woran fehlt es, dass sich junge Menschen in solche Fanatismen flüchten? Es ist also durchaus berechtigt, die Frage zu stellen nach dem Pro und Contra der Religionen.
Es hat sich etwas verändert. Die Religionen und vor allem die Kirchen haben ihre Selbstverständlichkeit verloren. Auch das ist gut für eine lebendige Weiterentwicklung und einen angeregten Diskurs. Aber was besorgt machen sollte, ist die allgemeine Wetterlage Religionen gegenüber. Der Ton wird rauer, härter, aggressiver. Eine objektive und sachliche Diskussion über Religionen ist oft nur noch schwer möglich und in vielen Fällen sind es die, die am lautesten die Toleranz fordern, die intolerant agieren. Stellen wir uns doch nur eine Welt ohne Religionen vor. Wie sähe sie aus? Und ist die Überzeugung, dass es keinen Gott gibt, nicht auch nur ein Glaube, der nicht bewiesen und nicht widerlegt werden kann? Nach dem Menschenbild der Dimensionalontologie von Viktor Frankl bilden die geistige und auch die religiöse Dimension des Menschen wesentliche Aspekte. Die religiöse Dimension gehört existenziell zur menschlichen Person. Das ist eine Frage der philosophischen und theologischen Anthropologie. Wenn ich diese religiöse Dimension ausblende, entsteht ein existenzielles „Vakuum“, in das hinein unweigerlich irgendetwas wuchert, ob wir das wollen oder nicht. Meine These dazu lautet: in ein religiöses Vakuum, in ein Werte-Vakuum wuchern Gewalt, Fanatismus und auch Missbrauch. Es ist zu bemerken, dass Fanatismen heute in allen Religionen zunehmen : die Fanatischen werden radikaler. Das trifft auch auf Gruppen zu, die sich als „religionsfrei“ und atheistisch deklarieren. Diese Art des Atheismus droht dann zu einer Religion der Intoleranz zu werden. Die Forderung, den öffentlichen Raum frei zu halten von Religiösem erweist sich auf diesem Hintergrund als ein gefährliches Axiom. Die großen „Helden unserer Kultur“ gegen die Fanatisierung sind dann nicht die Karikaturisten von Charlie Hebdo, sondern der Polizist Ahmed, der bei der Verfolgung der Attentäter sein Leben für jene hingegeben hat, die seine Kultur verletzt haben, er ist für mich der große Held von Paris, schreibt Tomás Halík in einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Und er stellt Folgendes fest:
„Wie im Nationalsozialismus und Kommunismus, in den Ideologien sowohl des Rassen- und Klassenhasses als auch in jener der Kultur- und Religionsfeindlichkeit ist der
bourgeoise Westen das Ziel der Angriffe. Frankreich ist ein besonderes Beispiel der gegenwärtigen westlichen Kultur: Die Schüler dürfen nicht muslimisches Tuch, christliches Kreuz und jüdische Kippa tragen; das Vorhandensein christlicher Symbole in der Öffentlichkeit wird bis zu einer Selbstkastration eingeschränkt, damit „die Muslime nicht entrüstet würden“.
Aber eine die Muslime entrüstende Zeitschrift wird als heiliges Symbol der französischen Kultur angesehen. Ist nicht das Prinzip der „Laizität“ allmählich zu einer intoleranten Religion des Atheismus geworden?“ In seinem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ kommt Peter Sloterdijk sogar zum Schluss, wir würden unser eigenes Leben mehr oder weniger zerstören, weil wir die Beziehung zu unseren Wurzeln, zu den Grundelementen unserer Identität abschneiden, weil jeder meint, sich individuell neu erfinden zu müssen. Wer sich nicht mit dem auseinandersetzt, was ihn prägt und kulturell sozialisiert hat, der verliert die Verbindung zu den Wurzeln seiner Identität. Die Religion abzuschneiden hieße dann, die Wurzeln abschneiden. Die Religionen zu verneinen, bedeutet auch, die eigene Geschichte zu verleugnen.
Eine religionsfreie, die glaubensfreie Welt kann sicher nicht die Lösung sein. Ein Blick in unsere unmittelbare Umgebung reicht oft schon aus, um zu erkennen, wie groß die
Sehnsucht der Menschen ist. Gerade Religion hilft ihnen, emotional Heimat, Halt und Geborgenheit zu finden. Vielleicht finden sie diese Erfüllung heute nicht mehr immer in
den großen Religionen, aber sie sind definitiv auf der Suche. Was ist dann das Ziel von Religion – hinter dem sie freilich oft auch zurück bleiben? Das Ziel heißt: Liebe, Leben in Fülle zu fördern und zu ermöglichen. Es ist der Einsatz für soziale Gerechtigkeit, für Frieden, für die Bewahrung der Schöpfung, um nur einige wenige Stichworte zu nennen. Religionen sind wunderbare Schätze in vielerlei Hinsicht.
Ernst Bloch vertritt in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ den Grundsatz, dass jeder Mensch Hoffnung braucht. Die Dichterin Rose Ausländer drückt das so aus: „Wer könnte atmen ohne Hoffnung, dass auch in Zukunft Rosen sich öffnen, ein Liebeswort die Angst überlebt.“ Ohne Hoffnung kann der Mensch nicht leben und es sind die Religionen, die diesen Bogen der Hoffnung ausspannen. Dazu ein kleines Beispiel: Ich denke an „Markus“, einen dreiundzwanzigjährigen krebskranken Jugendlichen in der Palliativstation eines Krankenhauses, also an einem Ort, wo ihn Menschen in den letzten Wochen oder Monaten seines Lebens bis zum Sterben begleiten und gut umsorgen. Er hatte sehr gekämpft mit seiner Krankheit, war in dieser Phase auch aus der Kirche aus-, dann wieder eingetreten. Er hatte einen Suizidversuch hinter sich. Es war ein erbitterter innerer Kampf mit Gott, der Welt und der Krankheit. Kurz vor seinem Tod konnte er trotzdem in sein Tagebuch schreiben: „Ich überlasse jetzt mein Leben ganz Gott, weil ich weiß, dass er auf mich schaut.“ Hoffnung hat immer einen Bezugspunkt zum Ewigen.
Ein anderer Schatz der Religionen ist die Solidarität. In einem Gespräch über die Kraft der Religion meint der polnische Philosoph Leszek Kolakowski2: Im Normalfall gibt es unter den Menschen die Solidarität unter ihresgleichen. Gegenüber dem, den ich sehe, bin ich solidarisch. Es gibt darum Philosophen, die sagen, es braucht für die Solidarität keine Religion, es genügt eine Solidarität, die im Humanismus gründet. Kolakowski sagt: das funktioniert aber nicht in die Zukunft. Erst die Religion baut eine Ethik, einen Wert, der über eine humane Solidarität hinaus auch in die Zukunft blickt. Die christliche Religion lebt Solidarität und Nächstenliebe gerade nicht nur für ihre eigenen Mitglieder, sondern auch außerhalb ihrer eigenen Gruppe. Der Barmherzige Samariter hilft dem, der unter die Räuber gekommen ist. Er fragt nicht, bist du Mitglied beim ÖAMTC oder bei der Gewerkschaft.
Für die christliche Religion wurzelt die tiefste Würde des Menschen darin, dass er Gottes Geschöpf ist, dass er „als Abbild Gottes“ (Gen 1,27) geschaffen ist. Diese Sichtweise gilt
ebenso für das Judentum. Dazu eine Chassidische Erzählung von Martin Buber: Rabbi Schlomo fragte: Was ist die schlimmste Tat des Bösen Triebs? Und er antwortete:
Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn [eine Königstochter] ist.3 Solidarität als ein Schatz der Religion gründet in der Gottes- und Nächstenliebe. Die „Goldene Regel“ in der Bibel formuliert das bei Matthäus so: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12). Jesus geht da noch ein ganzes Stück weiter: „Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln.“ (Lk 6, 27-31) Die Nagelprobe der
Solidarität, der Nächstenliebe ist also die Feindesliebe. Das ist weit mehr als Toleranz, mehr als Achtung und Wertschätzung.
Wie Religion auch ein Potenzial für Versöhnung und Heilung sein kann, zeigt eine Erfahrung mit der Familie Jägerstätter. Franz Jägerstätter und Carl Lampert wurden beide von Richter Werner Lueben zum Tode verurteilt. Lueben beging noch vor der Unterzeichnung des Todesurteils für Carl Lampert Selbstmord, stand bei der Verurteilung also in einem schweren Gewissenskonflikt. Nun hat sich vor einem Jahr, also 70 Jahre später, die Tochter von Richter Lueben an die Töchter von Franz Jägerstätter gewandt, hat ihnen ein Kreuz geschickt mit der Bitte um Versöhnung mit der Familie des Opfers und sie haben sich auch versöhnt. Papst Franziskus formuliert das vielleicht noch einmal deutlicher, wenn er sagt, dass eine entscheidende Leistung der Religionen für die heutige Gesellschaft, für die Menschheit darin liegt, Wunden zu heilen, Versöhnung zu schenken und die Herzen von Menschen zu wärmen. Das gilt auch für Europa und global. Die katholische Kirche ist ein „global player“. Es gibt Soziologen, die sagen, die Seligsprechung von Oscar Romero vor einer Woche, am Samstag vor Pfingsten, werde die Gesellschaft in Lateinamerika verändern, weil dadurch viel Versöhnung geschieht und weil der Widerstand gegen Unterdrückung, gegen Ausbeutung, gegen den wirtschaftlichen Kolonialismus der Großgrundbesitzer aufgewertet wird.
Warum sind bis heute trotzdem Kriege, Terror, grausamste Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde möglich? Warum war der Holocaust möglich? Der Genozid an den Armeniern? Warum der IS-Terror? Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas (1906-1995) gibt darauf eine verblüffende und vielleicht schockierende Antwort. Er stammte aus einer jüdischen Familie in Litauen, ging schon als 17-Jähriger zum Studium nach Straßburg und wurde bald auch französischer Staatsbürger. Seine Eltern, zwei Brüder und Angehörige seiner Frau wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Und so hat er sich diese Frage gestellt: Warum war der Holocaust möglich? Warum war es möglich, dass so viele Menschen grausamst und systematisch ermordet wurden? Eine Frage, die heute genauso aktuell ist. Warum ist so viel Grausamkeit in der Welt möglich? Lévinas Antwort lautet: Weil die Menschen vergessen haben, in das Antlitz der Mitmenschen zu schauen. Religion lädt dazu ein, dem Menschen ins Angesicht zu schauen. Weil es die Grundüberzeugung gibt, der Mensch ist das Ebenbild Gottes (Genesis). Philosophen und Theologen wie Origenes oder Augustinus von Hippo drücken es so aus: In jedem Menschen wohnt ein Funke Gottes. Religion lädt mich ein, in jedem Menschen das Göttliche zu suchen und zu entdecken. Wenn ich vergesse, meinem Mitmenschen ins Angesicht zu schauen, dann werde ich auch fähig zum Mord. Insofern ist Religion auch eine tiefe Fundamentierung der Menschenrechte, der Solidarität.
Wir kommen zum Ende dieses Rundgangs durch die „Wunderkammern“ der Religionen. Mein Fazit: Ich denke, eine friedvolle Zukunft für die Welt ist nur im engen Zusammenwirken der Religionen möglich. Ein schönes Beispiel dafür war das Friedensgebet am Dornbirner Marktplatz am 22. Jänner diesen Jahres, für das sich Menschen verschiedenster Religionen in der gemeinsamen Sehnsucht nach Frieden und einem guten Miteinander zusammengefunden haben.
Drei Dinge sind dafür von Bedeutung: Toleranz, Akzeptanz und Relevanz. Toleranz: dass wir einander tolerieren, auch wenn wir in vielem ganz unterschiedlich
sein mögen.