Agnes, deren Hoffnung auf die erträumte Arbeitsstelle geplatzt ist. Bernhard, der niedergeschmettert ist von der lebensbedrohenden Krebsdiagnose. Clara, deren Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe so bitter enttäuscht worden ist. Deramir, den nach den traumischen Erlebnissen der Flucht jetzt Ungewissheit und Feindseligkeiten quälen. Elfriede, die an der eintönigen Einsamkeit ihres Alters fast zerbricht. Die Leidensgeschichten der Karfreitage des Lebens kennen kein Ende.
Eine verwirrende Flut von Botschaften und Bildern strömt tagtäglich auf uns ein. In Zeiten von Fake News ist es schon fast zu einem Sport geworden, Falschmeldungen zu verbreiten. Was nicht der eigenen Meinung entspricht, wird als Unwahrheit und Lüge abgestempelt, anstatt in einen Dialog miteinander zu treten. Die Ellenbogen von Egoismus und Narzissmus verletzen ohne jedes Schmerzempfinden. Die vielen Bilder und Eindrücke werfen die Frage auf: Was ist wahr?
Das war auch die letzte Frage, die Pilatus an Jesus gerichtet hat, bevor er zur Kreuzigung geführt wurde. Am Ende des Lebens Jesu – und am Ende unseres Lebens – steht die Frage: Was ist Wahrheit? Was ist die Antwort auf alle Fragen, die uns das Leben stellt? Was bleibt von meinem Leben an Wahrhaftigem und Gutem? Was ist mit der Halbwahrheit, dem Gekünstelten, dem Vorgespielten, das wohl niemand von uns ganz ablegen kann? Und ganz besonders: Gibt es einen wahren Sinn von Leiden?
Der Karfreitag, das Kreuz enthüllt „Gott“ – und damit das Leben selbst. Gott will das Leben des Menschen: ganz und auf ewig. Er ist der große Freund und Liebhaber des Lebens (Weish 11,24,26). In Betlehem kommt er zur Welt, wird selbst Mensch, arm, nicht privilegiert, ja verfolgt schon von Beginn an. Unbeachtet wächst er in Nazareth auf, geht seinen eigenen Weg schon als Zwölfjähriger, wird ein einfacher Zimmermann. Schließlich tritt er an die Öffentlichkeit, tut Gutes, heilt Kranke, stiftet Hoffnung. Er fordert die Autoritäten heraus, gerät in die Mühlen des Misstrauens, der Gewalt und kommt schließlich unter die Anklage der Gotteslästerung.
Wie hat er von Gott gesprochen? Was hat er als unseren Weg geschildert? Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst! Diesen Weg geht er selber bis zum Schluss. Sein Leben ist ein Experiment der Liebe, selbst zu jenen, die ihm Feind sind. Lieben in der Situation entfesselter Gewalt bedeutet leiden. Der Weg der Liebe endet im Kreuzweg, mit der Passion. Das Kreuz Jesu zeigt uns das Schicksal wirklicher Liebe in unserer Welt.
Das Kreuz enthüllt noch mehr. Es antwortet auf die brennende Frage unseres Lebens: Wo ist Gott? Wo war Gott damals als sein Sohn Jesus starb? Wo ist Gott in meinem Leiden? Wie gerne hätten wir eine leidfreie Welt!
Der Skandal, den das Kreuz offen oder insgeheim bis heute auslöst, liegt in der Antwort des Glaubens, des abgrundtiefen Vertrauens: Er ist mit seinem geschlagenen und verhöhnten Knecht. Er steht auf der Seite der Opfer. Er bleibt dabei, wenn alle sich abwenden. Das Kreuz enthüllt Gott in seiner unwiderruflichen Solidarität mit dem Menschen. Gott war mit ihm – und so steht er zu uns. Gott ist selbst im Leiden da. So zeigt sich ein Lichtschimmer am Horizont: Genau in diese zerbrochene, unheile Welt kommt Gott als Hoffnung, Licht und Heil. Solche befreiende Erfahrungen auf dem Weg nach Ostern wünsche ich uns allen.
Bischof Benno Elbs