Der 4. Sonntag der Osterzeit rückt jedes Jahr das bekannte und beliebte Bild des guten Hirten in den Mittelpunkt. Schon oft habe ich bei Trauungen, Taufen, Beerdigungen oder Krankensalbungen Psalm 23 verwendet: „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Meine Lebenskraft bringt er zurück…“ Wunderbare Sätze, ergreifende Gedanken, die Hoffnung und Vertrauen schenken.
Zugleich werden auch immer wieder Bedenken laut, die das Motiv des guten Hirten in Frage stellen und auf seine Grenzen hinweisen. Denn wenn Gott der Hirt ist, dann ist der Mensch das Schaf. Wer möchte schon mit einem Schaf identifiziert werden, das blind in einer Herde mittrottet und immer gehorsam folgt? Mit Recht wehren wir uns dagegen, wenn wir das Gefühl haben, am Gängelband geführt zu werden und Dinge schlucken zu müssen, die „von oben“ vorgeschrieben werden. Verführt das Bild des guten Hirten nicht auch zu Hörigkeit und unkritischem, ja kindlichem Gehorsam? „Wir können nicht ewig Kind bleiben“, hat Sigmund Freud gesagt. Wir können und dürfen nicht alles abnicken und durchwinken. Zum Erwachsenwerden gehören auch Konflikte, bisweilen auch die Revolte gegen Eltern und andere Autoritäten, die es grundsätzlich gut mit uns meinen, von denen wir uns aber auch loslösen müssen, um auf eigenen Beinen stehen zu können.
– und auch das ist wahr – niemand wird erwachsen ohne Vertrauen: ohne Vertrauen in Menschen, die uns begleiten und stützen; ohne Vertrauen in Freundinnen und Freunde, die dann da sind, wenn wir sie brauchen; ohne Vertrauen auch in einen Gott, der alle Wege mit uns mitgeht. An diesem Punkt landen wir wieder beim Motiv des guten Hirten und bei Psalm 23. Genau in der Mitte des Psalms steht die zentrale Botschaft: „Muss ich auch wandern im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du, Gott, bist bei mir. Dein Stock und dein Stab, sie geben mir Zuversicht.“ Großes Vertrauen, große Geborgenheit sprechen aus diesen Zeilen. Der Psalmist weiß, dass Gott mit seinem Stock nicht auf die Finger klopft, sondern den Weg in die Freiheit bahnt. Die Weide ist kein Gehege, in das man gepfercht wird, sondern ein offener Raum der Hoffnung und Zuversicht. Im guten Hirten begegnet uns jene unzerstörbare Sehnsucht des Menschen nach Zärtlichkeit, Geborgenheit und nach einem Vertrauen, das Mut macht für den weiteren Weg.
Im Evangelium identifiziert sich Jesus mit dem guten Hirten. Er ist es, der – im Gegensatz zu den falschen Anführern und Verführern – die Seinen nicht nur oberflächlich oder vom Hörensagen kennt, sondern mit Namen. Er sucht nach ihnen, wenn sie sich verirrt haben, und trägt sie auf der Schulter nach Hause. Das unterscheidet den guten Hirten vom bezahlten Knecht, der gleich das Weite sucht, wenn es eng und brenzlig wird. Es sind ja nicht seine Schafe, auf die er aufpasst, und das eigene Leben ist ihm wichtiger als das der Herde.
Heute sind es beispielsweise die Ärztinnen und Pfleger in den Spitälern, die um das Leben von Menschen kämpfen. Sie sind gute Hirtinnen und Hirten. Oder Feuerwehrleute, Polizistinnen oder Rettungssanitäter, die nicht selten ihr Leben einsetzen, um Menschen zu helfen. Auch sie handeln als gute Hirten überall dort, wo Leben gefährdet ist. Gute Hirtinnen und Hirten gibt es auch in den Familien, den Pfarren, in den Schulen, in den Vereinen. Überall, wo ich in der Gegenwart von Menschen Trost und Halt spüre und wo ich erfahre, dass ich angenommen und verstanden werde, wird das Bild des guten Hirten auch heute Wirklichkeit.
An diesem Wochenende beten wir in den Gottesdiensten ganz besonders auch um geistliche Berufungen: um Menschen, die als Priester, Diakone und Ordensleute, als Seelsorgerinnen und Seelsorger das Evangelium in der Spur Jesu, des guten Hirten, weitertragen und Gottes heilende Nähe vermitteln. Ganz herzlich lade ich Sie ein, sich diesem Gebet anzuschließen.
Bischof Benno Elbs