Umfragen zählen vor allem in Politik und Wirtschaft seit langem zu den wichtigsten Werkzeugen, um gesellschaftliche Entwicklungen beobachten zu können. Sie sind wie ein Seismograph, mit dem man Stimmungen einfangen, Bedürfnisse herausfiltern und nicht zuletzt die Wirkung des eigenen Auftretens in der Bevölkerung überprüfen kann. Schließlich möchte man die eigene Botschaft oder das eigene Produkt ja bestmöglich verkaufen.
Im Evangelium, das wir an diesem Sonntag in den katholischen Gottesdiensten hören (Matthäus 16,13-20), scheint Jesus auf den ersten Blick auch eine Art Umfrage durchzuführen. Er ist mit seinen Jüngern nahe der Jordanquellen im Norden Israels unterwegs und fragt unterwegs seine Jünger: Für wen halten mich die Menschen? Die Jünger antworten prompt, jedoch dürfte ihrem Bericht zufolge die Meinungspalette sehr breit gewesen sein. Die einen hielten Jesus für Johannes den Täufer, andere meinten, er sei der Prophet Elija, wieder andere sagten, Jeremia oder ein anderer Prophet sei wiedergekehrt. Doch dann wird deutlich, dass es Jesus nicht darum geht, was die Menschen über ihn denken. Er schielt nie auf Mehrheiten und richtet seine Botschaft in keinem Moment an dem aus, was gerade gefragt oder in Mode ist. Vielmehr benutzt er diese Frage an die Jünger nur als eine Art Türöffner, um zum eigentlichen Punkt zu kommen: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“
An dieser Stelle habe ich mir die Frage gestellt: Können wir einen Menschen wirklich begreifen? Können wir von anderen sagen: So – und nicht anders – ist er oder sie? Klar, wir können ein paar Eigenschaften angeben: gutmütig, jähzornig, gesprächig, hilfsbereit, leicht reizbar... Wir können auch sagen, was ihm oder ihr wichtig ist: Hobbies, Familie, Karriere, Glaube, Sport... Wir wissen von vielen auch, was sie arbeiten, wie sie leben und wie sie ihre Freizeit verbringen. Aber haben wir mit diesen wenigen Angaben diesen Menschen schon erfasst und erkannt? Sagen nicht Eheleute, die schon seit Jahrzehnten gemeinsam durch dick und dünn gehen, auch in manchen Situationen: Du überraschst mich immer wieder? – oder manchmal auch: Du bist mir fremd?
Menschen haben immer etwas Unbegreifliches, Fremdes, Geheimnisvolles an sich. Bei Jesus ist es nicht anders. Ich beschäftige mich mit ihm nun schon ein Leben lang und entdecke ihn immer wieder neu. Er ist mir nah – und zugleich ist er schwer zu fassen. Auch die Evangelien schildern ihn in ganz unterschiedlichem Licht. Aber diese verschiedenen Darstellungsweisen Jesu in den Evangelien sind kein Widerspruch, sondern bilden die Wahrheit des Lebens ab. Das Wesen des Menschen bleibt vielfältig und im Grunde immer ein Geheimnis. In noch größerem Maße gilt das von Jesus. Denn wir glauben, dass Göttliches und Menschliches in ihm vereint sind, ja dass in und durch ihn Gott zu uns spricht.
Petrus antwortet auf die Frage Jesu so: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Diese Antwort kommt von Herzen. Sie ist nicht die Antwort auf eine Meinungsumfrage, keine bloße Auskunft, sondern ein persönliches Bekenntnis. Ich lade Sie ein, sich für diese Frage, die Jesus im heutigen Evangelium stellt, einmal ganz persönlich Zeit zu nehmen. Sie nicht vorschnell beantworten, sondern im Stillen wirken lassen: Wer ist Jesus für mich?
Bischof Benno Elbs